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Ambulantes Operieren Lebensgefahr in der Arztpraxis

Ob Zahn-OP, Gelenkspülung oder Polypen-Entfernung: Immer mehr Eingriffe werden in Arztpraxen durchgeführt. Die Qualität der Praxis-Narkosen wird nicht kontrolliert. Eine tödliche Gefahr, warnen Experten.
Zahnarzt-Ausrüstung: Bei ambulanten Operationen muss die Narkose gut organisiert sein

Zahnarzt-Ausrüstung: Bei ambulanten Operationen muss die Narkose gut organisiert sein

Foto: Corbis

Schnaps und schalldichte Wände sind zum Glück schon lange nicht mehr nötig, um Menschen zu operieren. Seit Jahrzehnten kann die Medizin sicher narkotisieren. Doch wenn die Standards unterschritten werden, ist der Patient in Lebensgefahr. Gemessen an der Gesamtzahl der Operationen sind Todesfälle oder Hirnschädigungen zwar selten, aber besonders tragisch: Denn sie könnten nach Ansicht von Richtern und Gutachtern oft verhindert werden - der betroffene Patient war zuvor meist in guter Verfassung.

Viele der rund 2800 selbständigen Anästhesisten in Deutschland sind alleine von Praxis zu Praxis unterwegs, ohne eigene, spezialisierte Mitarbeiter. Bei einer ambulanten Operation in einer Arztpraxis müssen dann die Arzthelferinnen einspringen. Die aber haben meist anderes zu tun und sind für eine Anästhesie-Assistenz nicht ausgebildet.

Oft werden Patienten dann im Aufwachraum allein gelassen, wie auch der fünfjährige Maximilian. Nach einer Zahnoperation im September war der Junge mit seinen Eltern allein im Aufwachraum. Die Mutter bemerkt, dass die Geräte nicht ordnungsgemäß funktionieren, der Brustkorb ihres Kindes bewegt sich nicht. Sie rüttelt den Sohn, bis er wieder atmet - zum Glück überlebt er die Panne ohne bleibende Schäden.

Praxis warb mit angeblich hohem Standard

Tragisch endete der Eingriff beim zweijährigen Hannes aus Sachsen-Anhalt. Bei seiner Zahnbehandlung fehlte Überwachungspersonal, das Narkosegerät war veraltet sowie falsch eingestellt. Der kleine Junge starb zwei Tage nach der Behandlung. Bei einem ähnlichen Fall (siehe Faktenkasten) hatte die Praxis in Limburg mit einem besonders hohen Standard geworben - tatsächlich aber gab es im Aufwachraum weder die nötigen Apparate noch Überwachungspersonal.

Unter welchen Bedingungen in manchen deutschen Praxen operiert werde, sei eine bewusste Patientengefährdung, sagt der ehemalige Anästhesie-Chefarzt der SLK-Kliniken in Heilbronn und jetzige Gutachter Uwe Schulte-Sasse. Gerade die Aufwachphase sei besonders gefährlich. Deshalb dürfe ein Patient gerade nach einer OP nicht allein gelassen werden. Schuld sei eine "Billigstruktur" bei ambulanten Operationen, die "vorhersehbar zu Katastrophen führt".

Ändern wird sich erst mal nichts. Die Qualitätssicherung ist mangelhaft, sagen Verbraucherschützer. Und Ann Marini vom Spitzenverband der Krankenkassen erklärt gegenüber SPIEGEL ONLINE, die zuständige Aufsichtsbehörde komme ihrem "Auftrag nicht nach".

Für "verpflichtende Maßnahmen zur Qualitätssicherung" ist seit der Gesundheitsreform 2007 der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) zuständig, das oberste Beschlussgremium für Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen. Zwar sind in einer Vereinbarung von 2006 die Voraussetzungen für ambulante Operationen definiert, ob die Anforderungen eingehalten werden, dafür fehlten "Festlegungen zur regelhaften Überprüfung", sagt Marini.

Welche Mindestanforderungen  bei einer ambulanten Narkose erfüllt sein müssen, hat eine Kommission der Facharztverbände der Anästhesisten  gerade neu definiert. Neben einem erhöhten Raum- und Gerätestandard ist vorgesehen, dass ein Anästhesist bei der Ein- und Ausleitung der Narkose qualifiziertes Assistenzpersonal dabei haben muss, das nicht mit anderen Aufgaben betraut sein darf.

Fortschritt sollte schon lange Standard sein

Die Verbände reagieren damit auch auf Todesfälle und die Berichterstattung darüber, das räumt der Leiter der Kommission, Frank Vescia, ein. Der Regensburger Anästhesist nennt die Pläne einen deutlichen Fortschritt - doch tatsächlich steht schon lange fest, dass ein Anästhesist speziell geschultes Assistenzpersonal an seiner Seite haben muss. Es ist in Lehrbüchern nachzulesen, und es steht auch in der Entschließung der Facharztverbände (BDA  und DGAI ) zur "Qualitätssicherung ambulante Anästhesie " von 2006.

Das Problem, sagt Tim Neelmeier, "ist der fehlende Umsetzungsdruck". Der Hamburger Rechtsanwalt, spezialisiert auf Organisationsverantwortung im Arztrecht, fordert zwei geschulte Assistenzkräfte - eine für den Aufwachraum und eine für den Operationsraum. "Das ist natürlich teuer, aber es ist das Hauptkriterium für die Sicherheit." Denn bei Praxis-ambulanten Operationen ist der Anästhesist oft mit der nächsten Narkose befasst, während der Patient in den Aufwachraum gebracht wird.

Anästhesisten sammeln selbst Fälle

Rechtlich begeht ein Arzt schon mit der Narkose eine Körperverletzung, wenn er ohne Anästhesisten, ohne Fachpflegepersonal oder ohne vorschriftsmäßige Medizingeräte arbeitet und den Patienten über die erhöhten Risiken nicht weitergehend aufklärt. Beschwerden von Betroffenen bei Ärztekammern versanden, so die Erfahrung von Anwalt Neelmeier. So wie in Berlin, wo ein Chirurg nach dem Tod einer Patientin im Jahr 2006 noch fünf Jahre praktizieren konnte, obwohl mehr als hundert Beschwerden gegen ihn eingegangen waren (siehe Faktenkasten).

Ob eine ambulante Narkose in einer Praxis gefährlicher ist als eine stationäre im Krankenhaus, ist bislang nicht bekannt. Sicher ist, dass die Zahlen deutlich steigen: Wurden vor zehn Jahren noch 5,3 Millionen ambulante Operationen durch niedergelassene Ärzte abgerechnet, waren es 2010 schon mehr als 8,2 Millionen.

Um Qualität und Ablauf der ambulanten Narkosen besser aufschlüsseln zu können, sammelt ein junger Bundesverband der niedergelassenen Anästhesisten nun selbst Zahlen: Das Anästhesie-Netz Deutschland  bittet Kollegen um Mithilfe, die Zahl ihrer Narkosen, das Alter ihrer Patienten, die Qualifikation ihres Personals und die operative Fachrichtung sowie mögliche Komplikationen über eine neu entwickelte Software anzugeben.

"Engagierte Ärzte halten sich an die Regeln", sagt Ilona Köster-Steinebach vom Verbraucherzentrale Bundesverband. "Aber die, die sich nicht daran halten, erwischen wir nicht." Praxisbegehungen als Instrument der Kontrolle etwa durch die Kassenärztlichen Vereinigungen sind beispielsweise jetzt schon möglich, werden aber kaum gemacht.

Patienten dürfen Nachfragen nicht scheuen

Der nötige Druck scheint nicht in Sicht. Selbst wenn der Gemeinsame Bundesausschuss eine neue Richtlinie in Angriff nähme, würde das Jahre dauern, beklagt Köster-Steinebach, weil von den Interessengruppen "jede Möglichkeit zur Verzögerung" genutzt werde, selbst wenn Defizite erkannt seien. Für sie ist das gerade im Bereich der Qualitätssicherung eine "mangelhafte Leistung, geradezu ein Versagen der Selbstverwaltung".

Bleibt nur der Druck von unten: "Niemand sollte sich scheuen, vor einer Narkose nachzuhaken", sagt Gutachter Uwe Schulte-Sasse: "Welcher Arzt macht was, wie ist die postoperative Überwachung gewährleistet? Gute Ärzte haben damit kein Problem." Leider müsse man auch darauf hoffen, Staatsanwälte für den Aspekt der Operationsorganisation zu sensibilisieren. "Denn den nächsten Schadensfall, den wird es geben."

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